Eine Rezension des neuen Buchs von Anja C. Wagner

„Der Beruf ist im deutschsprachigen Raum das Drehkreuz des Lebens. Sowohl individuell wie gesamtwirtschaftlich bestimmt er unsere Diskurse und Strategien, unsere Wünsche und Hoffnungen.“

(zitiert aus Anja C. Wagner, Berufen statt zertifiziert, Bern, 2021)

Und was machst Du so, beruflich?

Der Beruf ist identitätsstiftend und ordnet die Person in die Gesellschaft ein. Es wird heute erwartet, dass er dem Leben Sinn gibt, das Leben finanziert und das Alter sichert. Hohe Anforderungen, die nicht so leicht „unter einen Hut zu bringen sind“. Das war nicht immer so. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es unterschiedliche Bestrebungen gegeben hat in Abhängigkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bewegungen in den letzten Jahrhunderten. Wichtig für die Analyse unserer heutigen Situation sind die Forschungen von Max Weber zur protestantischen Ethik und der Entstehung des Kapitalismus. Wesentliche Voraussetzungen wurden in der Aufklärung und der Französischen Revolution geschaffen.

Die Digitalisierung und Internetkommunikation fördern in hohem Maße die Herausbildung einzelner Identitäten (siehe Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten), die nicht nur einzelne Personen, sondern auch Gruppen meint. Im Zuge dessen ist festzustellen, dass auch der Zugang zu Berufen schwieriger und Ausgrenzung häufiger wird. Das bedeutet, entsprechende Voraussetzungen mitbringen oder sich arrangieren und zertifizieren zu müssen, um den Eintritt in eine bestimmte Berufssparte zu erlangen.

Aufstieg durch Bildung: Der Nährboden der Zertifizierungsindustrie

Aufstieg ist möglich durch Bildung – zumindest für eine bestimmte Gruppe von Menschen, diejenigen, die einem Normalarbeitsverhältnis (NAV) nachgehen. So durften wir es in den letzten Jahrzehnten miterleben oder ansehen. Mit dieser Hoffnung auf Zertifizierungen lässt sich viel Geld verdienen. Um das diskriminierende staatliche Bildungssystem herum ist eine Zertifizierungsindustrie entstanden, die suggeriert mit entsprechendem Einsatz finanzieller Mittel die begehrten Zertifikate und damit den Eintritt in Berufe mit finanzieller Erfolgsgarantie bis zum Lebensende zu ergattern. Zertifizierungsindustrie und staatliche Institutionen arbeiten hier auch Hand in Hand. Nicht jedem/jeder Bürger:in stehen die finanziellen Mittel zur Verfügung, sich diesen Zugang zu erkaufen. Nicht jeder/jede bekommt sie staatlicherseits genehmigt.

Dieses System scheint in Zement gegossen. Daran konnte auch die Entwicklung des Deutschen Qualifizierungsrahmens (DQR), der unter anderem den Bachlorabschluss und die Meisterprüfung auf die gleiche qualitative Kompetenzstufe stellt, nichts Wesentliches ändern.

Zertifikate sind keine Garantie mehr für Berufserfolg

Heute stellt sich die Situation sehr viel differenzierter dar. Der technologische Fortschritt vollzieht sich so schnell, dass Staatsbetriebe und Zertifizierungsindustrie mit den Akkreditierungsverfahren nicht mehr nachkommen. Die angebotenen Lerninhalte sind veraltet und zu theoretisch. Was heute zählt sind Praxiserfahrungen, die sich in erworbene Fähigkeiten niedergeschlagen haben. Was nutzt ein gutes Arbeitszeugnis, wenn die ausgewiesenen Kompetenzen in der Praxis nicht „auf die Straße gebracht“ werden können.

Praxiserfahrungen, eine hohe (Selbst-)lernkompetenz und gute soziale Fähigkeiten sind in Zukunft der Schlüssel zum beruflichen Erfolg. In (unbezahlten) Praktika in z.B. Startups und ehrenamtlichen Tätigkeiten für Vereine und NGO’s kann ich meine Fähigkeiten entwickeln und (!) mich besser kennenlernen. Praxiserfahrungen ermöglichen neben dem fachlichen Kompetenzzuwachs die Erfahrung mit sich selbst in unterschiedlichsten Arbeitszusammenhängen. Sie schärfen den Blick auf das Selbst, die persönlichen Besonderheiten und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten.

Freiräume für das Lernen schaffen

Was es dringend dafür braucht sind neben individueller Anleitung und Begleitung FREIRÄUME. Freiräume für das Lernen und das Reflektieren von Lernergebnissen. Es braucht den Freiraum in der Schule, in der Ausbildung, im Studium und Arbeitsleben. Viele Organisationen (Google Zukunftswerkstatt, École 42) machen kostenfrei oder zu günstigen Preisen hochwertige Bildungsangebote, die ohne weiteres z.B. in ein individuelles Schulcurriculum eingebaut werden könnten.

Diese Freiräume zu schaffen sind eine wichtige Rahmenbedingung für das staatlicherseits eingeforderte Lebenslange Lernen der Bürger und Bürgerinnen.

Professionalisierung auf allen Ebenen

Und es gibt noch einen Handlungspunkt, den Anja C. Wagner zum Ende anspricht: Wir brauchen eine höhere Professionalisierung in weiten Teilen der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Verwaltung und Bildung. Was bedeutet Professionalität?

„Professionalität kann definiert werden als eine <<präzise, konsequente, standesgemäße Haltung und Ausführung, um einem sehr hochwertigem (auch berufsmäßigem) Standard gerecht zu werden.“

„Hergestellt wird sie durch bestimmte Charaktereigenschaften und Wertvorstellungen, wie zum Beispiel Verlässlichkeit, Redlichkeit, Zielstrebigkeit, Loyalität, Integrität und/oder Pflichtgefühl.“

(Frank H. Sauer in Freie Werte Enzyklopädie)

Am 21. Juni sprechen wir ab 17 Uhr in einer lockeren Runde über verschiedenen Inhalte aus dem Buch. Anja C. Wagner wird zu Beginn einige Thesen daraus vorstellen, über die wir diskutieren werden. Jede:r, die/der will ist herzlich eingeladen mitzureden.


Wer sich vor der Gesprächsrunde am 21. Juni zum Buch von Anja C. Wagner informieren möchte, der ist gerne eingeladen auf die Buchseite zu gehen. Dort gibt es Leserstimmen, eine Leseprobe und Anja spricht selbst dazu: www.berufenstattzertifiziert.de

Autorin: Gabriela Westebbe