Gastbeitrag von Gerald Hüther

NZZ-Podium Luzern, August 2021,

Ärgern Sie sich auch darüber, dass wir uns inzwischen fast schon damit abgefunden haben, ein Leben zu führen, in dem wir nicht einfach so sein dürfen, wie wir sind. Zu Hause nicht, an der Arbeit nicht und in der Schule auch nicht. Überall muss man sich anstrengen, muss man versuchen, so zu sein, wie es von einem erwartet wird, möglichst sogar noch besser. Sonst gehört man nicht dazu, ist man out, verliert man an Einfluss, wird man schief angeschaut. Und im Beruf kommt man auch nicht weiter, wenn man nicht ganz schnell lernt, die Klappe zu halten und freundlich zu lächeln. Sonst ist die die Karriere schon zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Neu ist das alles nicht. Diesen ständigen Anpassungszwang, dieses zwanghafte Bemühen, sich so zu verhalten, wie das Andere erwarten, kennen Sie zu Genüge. Vielleicht sind Sie sogar der Meinung, dass es gar nicht anders geht. Dass man sich an die Gegebenheit und die Erfordernisse der Gesellschaft und der Kultur anpassen muss, in die man hineinwächst. Je früher, desto besser. Noch immer wird das in manchen Familien und Kulturen mit Gewalt und Druck und unter Androhung von Strafen für alle durchgesetzt, die aus der Reihe tanzen. Aber hier bei uns machen das die meisten schon ganz freiwillig. Weil man sonst nicht erfolgreich sein kann. In der Schule nicht und im Beruf auch nicht.

Und wer sich erst einmal lange genug bemüht hat, so zu werden, wie es von ihm erwartet wird, wer sich, um anerkannt zu werden und voranzukommen, ständig angestrengt und angepasst hat, der hat dann auch bestimmte Vorstellungen davon, wie sich alle anderen im ihn herum zu verhalten haben. So ein angestrengter Angepasster hat eine tief empfundene Abneigung gegenüber all jenen, die sich nicht genauso anstrengen wie er, die nicht so diszipliniert, so kontrolliert, so vorausschauend und so ordentlich sind. So ein erfolgreich Angepasster wird sich dann auch fast zwanghaft über jeden aufregen, der fröhlich singend und pfeifend daherkommt und sich einfach nur am Leben freut. Immer dann, wenn jemand etwas anders macht als sie es für richtig halten, bringt das diese tapferen Funktionierer innerlich zur Weißglut. Abfällig behandeln sie jeden, der etwas kann, was in ihren Augen zu nichts nutze, für nichts zu gebrauchen ist. Träumen oder Schmetterlinge beobachten, zum Beispiel. Und genauso abfällig reagieren sie auf all jene, die etwas nicht können, was sie selbst für besonders wichtig halten, Mathematik zum Beispiel, Rechtschreibung oder kluge Reden halten, am besten dreisprachig. Und möglichst schon im Kindergarten.

Kommt jetzt bei Ihnen im Gehirn das Lustzentrum langsam in Erregung? Hatten Sie nicht auch schon immer das Gefühl, dass man es mit dem sich anpassen und dem ständig-erfolgreich-sein-Wollen auch übertreiben kann? Sind Ihnen all diese Besserwisser und Alleskönner nicht auch schon oft genug auf die Nerven gegangen? Und hat Ihnen ihr Bauchgefühl nicht schon häufiger gesagt, dass an dem, was sie behaupten und als „alternativlos“ darstellen; irgendetwas nicht so recht stimmt.

Ihr Bauch hat recht. Genau das lässt sich inzwischen sogar aus den Befunden ableiten, die von den Hirnforschern in den letzten Jahren mit Hilfe ihrer neuen, bildgebenden Verfahren, zutage gefördert worden sind. Die daraus abgeleitete wichtigste Erkenntnis lautet: Menschen sind Lebewesen und keine Maschinen. Und als Lebewesen verfügen wir Menschen über etwas, das die von uns gebauten Maschinen, auch die allerbesten Roboter und Automaten nicht haben und niemals haben werden: eigene Bedürfnisse, Sehnsüchte und Träume und damit auch den Wunsch und den Willen, sie zu verwirklichen. Wer nichts mehr will, wem nichts mehr wichtig ist, wer nichts mehr begehrt, der spürt auch nichts mehr. Der ist seelisch tot.

So einfach ist das. Und bis hierher werden die so perfekt durchoptimierten Funktionierer auch noch mitkommen. Denn sie wollen ja etwas, uns das verfolgen sie sogar mit großer Vehemenz. Sie wollen, dass das, was sie tun, optimal funktioniert, dass sie mit dem, was sie machen, Erfolg haben, dass sie also mit ihren Ideen, mit ihren Konzepten, mit ihren Projekten und Bemühungen erfolgreicher sind als andere. Sie wollen einfach besser sein als die Anderen, womöglich sogar bessere Menschen. Das ist ihre Intention. Dafür leben sie. Das wird jeder Besserwisser und Alleskönner auch gern zugeben. Sonst wäre er ja keiner.

Jetzt aber kommt das hirntechnische Dilemma, mit dem all jene Menschen konfrontiert sind, die sich immer nur über den Vergleich mit anderen definieren. Die ihr Gehirn ständig dazu benutzen, sich selbst einzureden, sie seien besser als die anderen. Oder sie könnten es sein, wenn man sie nur ließe. All diese sich-selbst-mit-anderen-Vergleicher verfügen über keinen eigenen Bezugspunkt. Ihre Referenz, mit der sie sich selbst definieren, sind immer nur die Anderen. Von denen können sie sich entweder abgrenzen oder mit denen können sie sich identifizieren. Aber wer sie selbst sind, wissen sie nicht. Das spüren sie auch nicht, denn ihnen fehlt eine hinreichend gut ausgebildete innere Selbstreferenz. Oder einfacher gesagt: Sie besitzen einen nur unzureichend ausgebildeten Eigensinn.

Hirntechnisch ist das zunächst noch keine Katastrophe. Kurzfristig kann man damit ja sogar, wie sich allenthalben beobachten lässt, recht erfolgreich vorankommen. Langfristig erweist sich ein unzulänglich ausgebildeter Eigensinn dann aber doch als äußerst ungünstig für diese so überaus gut an die Erwartungen Anderer angepassten Personen: für ihre Gesundheit, ihr Lebensglück, ihre Entwicklungsperspektiven und damit natürlich auch, und nicht zuletzt, für ihr Gehirn.

Wer keinen Eigensinn hat, spürt sich ja deshalb nicht richtig, weil er oder sie meist schon sehr früh gelernt hat, nicht auf sich und seine eigenen Bedürfnisse zu achten. Stattdessen haben diese Menschen immer versucht, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse an den Wünschen und Bedürfnissen anderer Menschen auszurichten. Als Kinder erscheinen sie brav und pflegeleicht, genau so, wie sich das die meisten Eltern wünschen. Immer gut in der Schule, vorbildliches Betragen, Einserabitur, Studium… Manche halten das ein Leben lang durch. Bei manchen kommt es aber irgendwann zum Crash: Essstörung, Angsterkrankung, Psychose, Depression, Burnout, Herzinfarkt oder Alkoholsucht.
Das ist alles nicht so besonders günstig, auch nicht für das Gehirn.

Ein Mangel an Eigensinn geht aber nicht nur mit einem zu schwach entwickelten Gespür für sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse einher. Wer keine hinreichend starke innere Referenz in Form eigener Vorstellungen, innerer Haltungen und Überzeugungen ausgebildet hat, dem wird es auch schwerfallen, unabhängig von den Werturteilen und Maßstäben anderer Personen eigene Bewertungen vorzunehmen und darauf beruhende Entscheidungen zu treffen. Wer mit so einem schwach entwickelten Eigensinn herumläuft, der wirkt wie Pudding auf andere Menschen. Der drückt sich weg, an dem kann man sich nicht reiben, in dem findet man kein Gegenüber, das einem einen Spiegel vorhält, in dem man sich selbst erkennen kann. Solche Typen rutschen meist überall glatt durch. Bei ihnen scheint immer alles irgendwie zu klappen. Sie machen keine Schwierigkeiten, sind aber auch niemals richtig zu fassen. Weil sich diese besonders gut angepassten Personen auf eine ernsthafte Beziehung gar nicht einlassen, haben sie auch kaum Beziehungsprobleme. Und weil sie immer höher, schneller und weiter vorankommen wollen, bekommen die meisten auch keine Kinder. Zum Glück! Denn denen würde es in Ermangelung geeigneter elterlicher Vorbilder dann wohl auch nur sehr schlecht gelingen, einen eignen Willen und eine eigene, hinreichend starke Selbstreferenz herauszubilden.

Manchmal führt der Mangel an Eigensinn in kollektive Katastrophen. Das ist immer dann der Fall, wenn aus irgendwelchen Gründen ganz bestimmte Vorstellungen und Ziele von den meisten Mitgliedern einer menschlichen Gemeinschaft als besonders bedeutsam und erstrebenswert erachtet werden. Dann bleibt nur zu hoffen, dass es in dieser Gemeinschaft noch genügend Menschen mit einem ausgeprägten Eigensinn gibt, die aufstehen und die Gefolgschaft verweigern. Sonst gerät die gesamte Gemeinschaft in eine gefährliche Schieflage. Das war in der Zeit des Nationalsozialismus so und das wird auch künftig immer dann so sein, wenn zu viele erfolgsorientierte Mitläufer beim großen Rennen auf ihren zu glatt gemachten und zu stark geradeaus führenden Straßen unterwegs sind.

Früher wurden all jene, die nicht bereit waren, so zu werden wie alle anderen, weggesperrt, weggejagt oder gar umgebracht. Und zwar erst als Erwachsene, nicht schon als Kinder oder Jugendliche. Heute werden diejenigen, die anders als der Durchschnitt, also nicht „normal“ sind, schon als Kinder aussortiert, mit einer medizinischen Diagnose versehen und so behandelt, dass sie wieder besser zu den „normalen“ Kindern und Jugendlichen in Kindergärten und Schulen passen. Störenfriede sind sie, und weil sie mit ihrem Anderssein unsere Bequemlichkeit, und das optimale Funktionieren unserer Bildungseinrichtungen stören, können wir sie nicht gebrauchen. Indem wir diese Kinder nur noch danach beurteilen, wie gut sie sich einfügen, sich unterrichten und erziehen lassen, sehen wir nicht mehr, was sie uns mit ihrem auffälligen Verhalten zu zeigen versuchen. Dann sind wir blind geworden für das, was ihnen fehlt. Das ist nicht einfach nur Zeit, wie viele meinen, sondern Zuwendung, Wertschätzung, Ermutigung und, ja, eben das, was wir bedingungslose Liebe nennen.

Nur wer sich in seiner ganzen Einzigartigkeit als Subjekt so gesehen und angenommen fühlt, wie er ist, kann all das, was in ihm an Talenten und Begabungen, also an Potential angelegt ist, auch zur Entfaltung bringen. Er muss sich nicht anstrengen, um die Erwartungen anderer zu erfüllen, muss nicht versuchen, so zu werden, wie die sich das wünschen, um von ihnen gesehen und angenommen zu werden. So ein Mensch kann es sich leisten, zu tun und zu lassen, was sie oder er für richtig hält. Wenn alle anderen losmarschieren, kann er einfach stehenbleiben. Wenn alle anderen „ja“ sagen, hat er keine Angst davor, „nein“ zu sagen. Ohne solche eigensinnigen Menschen, die es schaffen, die einhellig von allen anderen geteilten Vorstellungen und Überzeugungen in Frage zu stellen und die von Ihnen geschaffenen Realitäten anzuzweifeln, hätten wir niemals lernen können, was es heißt, ein selber denkender, selbstverantwortlicher und deshalb freier Mensch zu sein.

Schön und gut, können Sie jetzt sagen, aber was heißt das nun konkret für unser tagtägliches Leben? Es heißt nichts weiter, als dass einzig und allein Sie es sind, der sich entscheiden kann, das eigene Leben künftig an anderen Kriterien auszurichten als bisher. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten andere Menschen verändern. Das Einzige, das wir verändern können, sind wir selbst, sind die fragwürdigen Vorstellungen, die wir uns irgendwann einmal in unser Gehirn gebaut haben und denen wir bis heute folgen, auch wenn sie unser Leben zunehmend beschwerlicher machen und uns die Freude am Lebendigsein rauben. Machen Sie es konkret und fragen Sie sich, wie Sie künftig leben wollen: So wie bisher oder anders? Vielleicht etwas umsichtiger, etwas liebevoller etwas mitfühlender als alle anderen? Dann könnte es hilfreich sein, Ihren Eigensinn wiederzuentdecken, auch wenn alle anderen Sie für verrückt erklären.,

www.gerald-huether.de, www.akademiefuerpotentialentfaltung.org

Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise von Prof. Dr. Gerald Hüther für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Dafür bedanken wir uns sehr. Er ist erstmals erschienen in der NNZ.