Das Dilemma der Berufsorientierung
Wenn es um Berufsorientierung geht, um die Suche und das Finden des „Traumberufs“ wird das Dilemma unseres Bildungssystems offenbar. Das größte Problem: Bis auf einige wenige wissen die meisten Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schullaufbahn und oft auch am Ende ihres Studiums nicht was sie wollen. Und nicht nur das, viele haben auch das Gefühl nichts wirklich zu können, haben Mühe, sich für was auch immer zu interessieren. Aber es liegt nicht an ihnen, an ihrer Faulheit oder Prokrastination zu deutsch Verschieberitis.
Es liegt daran, dass sie durch ein Schulsystem sozialisiert wurden, dass unangepasstes Denken nicht verträgt und daher unterdrückt. Die Folgen sind Entwicklungsstörungen, die als völlig normal gesehen werden. Die jungen Menschen verlieren den Kontakt zu sich selbst. Es fällt ihnen zunehmend schwerer zu lernen, aber vor allem verlieren sie Interesse und Begeisterung. Nur wenige schaffen es, sich dies entgegen dem Druck der Schule und ihrer Umgebung zu erhalten.
Wer gut angepasst ist kommt weiter
Die gut Angepassten kommen weiter, finden ihre Ausbildungsstelle oder ihren Studienplatz. Die weniger gut Angepassten spüren, dass ihnen etwas fehlt und dass sie dies wahrscheinlich nicht durch eine Berufswahl finden können. Sie rebellieren innerlich, aber wirken äußerlich entschlusslos, gar faul und desinteressiert. Sie haben für keinen der angebotenen Berufe wirklich Interesse und entscheiden sich zum einen nach materiellen Aspekten, die zumindest etwas finanzielle Freiheit und Sicherheit versprechen, und zum anderen nach dem Druck von Eltern, von Bekannten oder auch Freunden, die besser zu wissen scheinen, was für einen richtig und wichtig ist.
Offenbar ist dies doch nicht so ganz richtig. Die steigenden Zahlen von Ausbildungs- und Studienabbrüchen zeigen ein anderes Bild.
Frau Prof. Dr. Birgit Spies hat in ihrem Vortrag anlässlich des JugendOnlineEvent im März 2021 unter Anderem das Thema des Verlusts des unangepassten Denkens aufgegriffen. Dazu verweist sie auf eine Langzeitstudie, die die Fähigkeit zum unangepassten Denken untersucht hat. Diese Fähigkeit gilt als Voraussetzung für Genialität und Kreativität. Es ist die Fähigkeit, nicht nur eine, sondern viele mögliche Antworten auf eine Frage zu sehen. Eine Frage auf unterschiedliche Art und Weise zu interpretieren. Nicht nur linear und eindimensional, sondern quer und vernetzt zu denken.
Diese Studie wird im Brainfood Challenge Tag 13 folgendermaßen beschrieben:
In der Studie wurden 1500 Testpersonen untersucht. Ab einer gewissen Punktzahl galt die Person als Genie im unangepassten Denken.
Wie viele der 1500 Testpersonen erreichten das Niveau eines Genies im unkonventionellen Denken?
Im Alter von 3 – 5 Jahren erreichen 98 Prozent das Level „genial“. (1968).
In der Langzeitstudie wurden die gleichen Kinder fünf Jahre später getestet, als also das Schulsystem erste Früchte zeigen sollte.
Im Alter von 8 – 10 Jahren erreichen 32 Prozent das Level „genial“ (1973)
Man testete dieselben Kinder weitere fünf Jahre später, als Schule und Gesellschaft sie weiterentwickelt hatten.
Im Alter von 13 – 15 Jahren erreichen 10 Prozent das Level „genial“ (1978).
Man testete 200.000 Erwachsene nur zur Kontrolle.
Im Alter 25+ erreichen 2 Prozent das Level „genial“.
Ein Einwand, der gegen die Studie erhoben wurde, ist die Gleichsetzung von unangepasstem Denken mit Genialität. Als „genial“ wird in dieser Studie die Zahl von möglichen Lösungen für eine Aufgabe bezeichnet. Nur eine Antwort ist demnach nicht genial, aber mehr als 10 mögliche Lösungen durchaus. Manchen Kindern fielen noch weit mehr ein.
Menschen, denen viele Ideen einfallen, die in der Lage sind, ihre Perspektive immer wieder zu wechseln, empfinden wir durchaus als „genial“. Dies war die Bewertungsgrundlage in dieser Studie.
In der Schule lernen die Kinder, dass es nur EINE ANTWORT gibt. Andere Antworten werden als falsch abgewertet.
In der Berufswahl gibt es demnach ebenfalls nur einen Beruf. Das ist geradezu lächerlich, wenn man weiß, dass die meisten Berufe in den kommenden Jahren tiefgreifende Veränderungen erfahren werden, ganz verschwinden können und viele neue Berufe entstehen werden. Es gibt keine Garantie, keine Sicherheit für einen lebenslangen Beruf. Sicher ist nur die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens und genau das vermittelt die Schule nicht.
Dr. Peter Westebbe