Kompetenzentwicklung ist Ziel moderner Bildungskonzeptionen. Die Forderung nach Kompetenzentwicklung erschließt sich aus der Erkenntnis, dass reines Wissen nicht genügt, um Handlungen in die Praxis, in die Tat umzusetzen, oder umgangssprachlich ausgedrückt, etwas „auf die Straße zu bringen“. Es reicht demnach nicht aus, Wissensinhalte vorzutragen und (auswendig) zu lernen, sondern das Ziel muss sein, die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen, Auszubildenden oder Mitarbeiter:innen zu ermöglichen. Nicht Wissen soll in Köpfe gepresst, sondern die individuelle persönliche Entfaltung soll gefördert werden.
Kompetenz – was ist das eigentlich genau?
Kompetent zu sein bedeutet, sich in einer neuen komplexen Situation zurechtzufinden, d.h. handeln zu können. Handeln lernt man nur im Tun. Bei jeder Form von Handarbeit ist uns das sofort klar, auch beim Erlernen eines Musikinstruments. Nur durch tägliche Praxis, viel Übung mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, durch Machen, Fehler aushalten und korrigieren und wiederholtes Tun erreicht man den Status eines Experten und einer Expertin. Die meisten von uns kennen das auch vom Führerscheinmachen. Autofahren lerne ich nicht im theoretischen Unterricht, sondern in den praktischen Fahrstunden. Das theoretische Wissen ist nicht unnütz, im Gegenteil, ohne die Kenntnis der Verkehrsregeln wäre man seinen Führerschein sicher bald wieder los, aber die Regelkenntnis alleine macht niemanden zu einem/einer guten Autofahrer:in.
Und auch hier ist klar, je länger und je öfter ich fahre, desto geübter und geschickter bin ich im Manövrieren meines Fahrzeugs auch in unübersichtlichen Verkehrssituationen. Ich bin ein:e kompetente:r Autofahrer:in geworden. Ich kann mich auf dem Land und im Stadtverkehr zurechtfinden, auch in fremden Städten oder im Ausland. Das, was ich gelernt habe, kann ich ohne fremde Hilfe, z.B. eines Beifahrers (Fahrlehrer, Eltern) in neuen, unbekannten Situationen anwenden. Zunehmend bekommen wir hier Unterstützung durch Automatik und intelligente Systeme, wie z.B. das Navi, Spurkorrekturen, Einparkhilfen usw..
Eine Kompetenz in einem bestimmten Fachgebiet drückt sich demnach darin aus, dass eine bestimmte Handlung in einer unbekannten komplexen Situation ohne fremde Hilfe ausgeführt werden kann.
Das SKATE-Modell
Eine Kompetenz setzt sich, wie gerade beschrieben, aus mehreren Bestandteilen oder Dimensionen zusammen (vgl. Triebel, Claas: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?; Stuttgart 2022, S.35ff ):
- Skills: Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ich gelernt habe, z.B. Steuern eines Autos mit all den verschiedenen Handlungsfolgen, die zum Autofahren dazu gehören.
- Knowledge: Wissen und theoretische Kenntnisse; beim Autofahren die Kenntnis der Verkehrsregeln, aber auch wie und was man tankt, die Motorhaube öffnet, Wischwasser nachfüllt usw.
- Ambition: Motivation, Lust darauf, etwas zu tun. Manche Menschen fahren sehr gerne mit dem Auto, andere nicht. Meistens fahren Personen mit großer Freude am Autofahren schneller sehr viel besser. Bei einigen entwickelt sich die Lust auch mit dem zunehmenden Können.
- Talent: Talent, Begabung, Anlage, Eigenschaft, das was uns „in die Wiege“ gelegt wurde und wir als persönliche Voraussetzung ins Leben mitbringen. Das ist sehr individuell und bestimmt uns in gewisser Weise.
- Experience: Erfahrung; je mehr Erfahrung wir mit einer Sache in der Breite und Tiefe haben, desto besser können wir eine bestimmte Aufgabe oder Tätigkeit erfüllen. Um im Beispiel Autofahren zu bleiben: Nach vielen Jahren konstanter Fahrpraxis ist mir das Autofahren „in Fleisch und Blut übergegangen“, ich habe Handlungsabfolgen verinnerlicht und kann Verkehrssituationen intuitiv ohne Nachdenken einschätzen und bewältigen.
Meines Erachtens ist das SKATE-Modell die derzeit intelligenteste Erklärung des Kompetenzbegriffs und zugleich diejenige, die sich unmittelbar in Lernziele und Lernhandlungen umsetzen lässt. Seine 5 Dimensionen S=Skills, K=Knowledge, A=Ambition, T=Talent, E=Experience sind nicht unabhängig voneinander und bedingen sich gegenseitig, wie das Beispiel vom Autofahren auch zeigt. Die einzelnen Dimensionen lassen sich dennoch in ihren einzelnen Ausprägungen analysieren und gezielt fördern. Lernziele können für jede Dimension individuell gesetzt und ebenso können Lernfortschritte individuell festgehalten werden. Kompetenzentwicklung nach dem SKATE-Modell versetzt Lernende in die Lage, den eigenen Lernprozess zu durchschauen, sinnhaft zu erleben und Verantwortung für ihn zu übernehmen.
Das Dilemma in der Berufsorientierung
Nur wenige Jugendliche haben ein auch nur ungefähres Bild von sich. Sehr viele kennen ihre Talente und Begabungen nicht, haben ein verworrenes Bild ihrer Interessen, können nicht ausdrücken, was sie können und wo sie im Leben hinwollen. Vor allem Abiturient:innen stehen dann vor der Vielzahl der Studien- und Ausbildungsmöglichkeiten und fühlen sich mit der Entscheidungsfindung komplett überfordert.
Die Berufsberatung von Schülern und Schülerinnen steht deshalb vor einem Dilemma. Der zu beratende junge Mensch kann Schulnoten in einer Auswahl von Fächern angeben und Zeugnisbemerkungen. Mehr oft nicht. Oberflächlich lässt auch das Freizeitverhalten keine Schlüsse zu. Eignungstest werden dann zur schnellen Lösung herangezogen. Eignungstest helfen jedoch nur bedingt weiter, können lediglich, wenn sie gut sind, Anhaltspunkte geben, wo man über sich selbst nachdenken und Erfahrungen sammeln sollte. Günstiger wird es, wenn Praktika, Ferienjobs oder ehrenamtliche Tätigkeiten vorliegen. Dann kann im Gespräch nachgeforscht werden, wie die Tätigkeiten im Einzelnen abgelaufen sind und wie sich alles angefühlt hat. Es geht darum, einen Prozess der Reflexion über sich selbst in Gang zu setzen und nachzuforschen nach besonderen Talenten, Eigenschaften, Werthaltungen und Interessen.
Im Idealfall gibt es an der Schule viele und vielfältige Projekte oder Projektphasen, die – wie Praktika auch – von einem/einer coachenden Lehrperson reflektierend begleitet werden. Dann hat der junge Mensch eine Chance, sich selbst kennen zu lernen, sich seiner Talente und Interessen bewusst zu werden. Gelernt wird im Tun und auf allen Dimensionen, die das SKATE-Modell beschreibt. So kann das Dilemma in der Berufsorientierung gelöst werden.
Autorin: Gabriela Westebbe