Wie geht es Ihnen, wenn Sie diesen Satz hören oder wie hier lesen: Es muss doch nicht jeder studieren? Was kommt Ihnen in den Sinn? Welche Gedanken stellen sich bei Ihnen ein? Und welche Gefühle?
Wenn ich diesen Satz höre, dann fängt es bei mir gleich an zu rattern. Ganz viele Gedanken und Gefühle kommen gleichzeitig in meinen Kopf – und in meinen Bauch. Im Folgenden versuche ich diese Gedanken und Gefühle etwas zu entwirren und zu sortieren.
Die Wissensgesellschaft stellt hohe Anforderungen an Alle
Ja, ich stimme zu: Es muss nicht jeder und jede studieren! Aber: Das Bildungsniveau in der Wissensgesellschaft, in der wir jetzt leben stellt hohe Anforderungen an jede einzelne Person, nicht nur im Beruf, sondern auch im Alltagsleben. Wir leben in einer sehr komplexen Welt. Diese Welt besser zu begreifen ist eine wichtige Voraussetzung für ein angstfreies friedvolles Zusammenleben. Die Chancen auf Teilhabe, auf Mitbestimmung und Mitwirkung in der Gesellschaft sind größer, wenn eine Person gut gebildet ist und über die von der OECD aufgestellten und in der BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung) verankerten Schlüsselkompetenzen verfügt. Wenn ich eine kluge, gut informierte und mitdenkende Gesellschaft möchte, dann ermögliche ich allen Mitgliedern dieser Gesellschaft Bildung auf sehr hohem Niveau. Diese muss nicht zwangsläufig über ein Studium erreicht werden, kann aber natürlich über ein solches erreicht werden. Über den eigenen Bildungsweg muss jede Person selbst entscheiden dürfen, d.h. jeder darf auch studieren!
Damit sind wir schon beim nächsten Punkt:
Wer trifft die Entscheidung für oder gegen ein Studium?
Die Entscheidung, ob ein Studium generell anzustreben oder nur der nächste Bildungsschritt sein sollte, muss jede Person selbst treffen (können und dürfen). Ein Studium kann in eine individuelle Bildungsbiografie passen oder auch nicht. Die Entscheidung muss bei der einzelnen Person liegen und die Aufnahme eines Studiums generell über die Jahre hinweg immer möglich sein.
Unser Schulsystem ist nun leider so angelegt, dass durch die frühe Selektion vielen Kindern im Grundschulalter dieser Schritt für den Rest des Lebens verbaut wird – bei aller Durchlässigkeit in unseren Bildungssystem(en). Dieses Bildungsthema ist sehr komplex und eine Auseinandersetzung damit würde hier viel zu weit führen. Wir haben dieses Thema auch in unserer Paneldiskussion aufgegriffen, deren Ergebnisse hier nachzulesen und zu hören sind. Sehr verständlich und gut nachvollziehbar erläutert der Soziologe und Bildungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani die Verhältnisse und historisch bedingten Zusammenhänge in Deutschland. Ich stelle unten einige Links dazu ein für alle, die sich damit näher beschäftigen möchten.
Generell gilt, dass ein abgeschlossenes Studium heute keine Garantie mehr ist für eine Beschäftigung und damit finanzielle Absicherung des Lebens und des Alters. Allerdings ist der Fachkräftemangel derzeit so groß, dass eine junge Person „auch mit einem inhaltlich nicht passenden Studium“ einen Arbeitsplatz finden wird. Die Frage ist dann höchstens, ob es einen anderen sinnvolleren Ausbildungsweg gegeben hätte und wie sich das Arbeitsfeld in Zukunft entwickeln wird, d.h. welche Weiterbildung wo ansteht.
Der Fachkräftemangel ist hausgemacht
Gerne wird in diesem Zusammenhang auch von einer Fehlentwicklung hin zu den zukünftigen Arbeitsmärkten und einer unnötigen „Akademisierung“ von jungen Generationen gesprochen. Tatsächlich kann und will sicher auch nicht jeder und jede Ärzt/-in, Jurist/-in, Wissenschaftler(-in) und Professor/-in werden. Allerdings ist das Image und auch der vermutete Verdienst dieser Berufsvertreter/-innen besonders hoch. Attraktiv ist auch die Sicherheit des Beamtenstatus. Wen wundert es, dass viele junge Leute diesen Berufsweg gehen möchten, oft ohne sich mit den Rahmenbedingungen und besonderen Anforderungen auseinanderzusetzen.
Image, Verdienst und Arbeitsplatzsicherheit sind wichtige Kriterien bei der Studienwahl und Berufsentscheidung. Über ganze Bereiche z.B. das Handwerk und die Pflege, aber auch technische Berufsausbildungen in der Industrie gibt zu wenige aktuelle Informationen. Die Berufsbilder, deren Entwicklungschancen und Entfaltungsmöglichkeiten sind Lehrkräften, Eltern und den Jugendlichen nicht bekannt. Sie werden bei der Berufswahl deshalb erst gar nicht in Erwägung gezogen.
Radikale Potentialentfaltung und das Grundrecht auf Coaching
Damit komme ich nochmals auf das Buch „Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?“ zurück, über das ich bereits in den letzten beiden Blogbeiträgen hier und hier geschrieben habe.
Der Autor Claas Triebel führt einen Gedanken aus, den ich aufgreifen möchte. Jeder Mensch kommt mit seinen individuell besonderen Anlagen zur Welt. Und jeder Mensch möchte sich mit seinen Möglichkeiten in die Gemeinschaft einbringen und Nutzen stiften. Die Talente und Entfaltungsmöglichkeiten der einzelnen Personen nicht wahrzunehmen und nicht zu fördern ist eine ungeheure Verschwendung von Ressourcen, die vergleichbar ist mit der Verschwendung anderer Ressourcen, beispielsweise Wasser, Nahrungsmittel und Energie.
Im Grundgesetz ist das Recht auf Bildung und freie Berufswahl verankert. Dabei brauchen die Menschen Unterstützung. Sie brauchen Unterstützung dieses Grundrecht zum eigenen Wohl wahrzunehmen. Das gelingt durch individuelle Lernbegleitung (Coaching) und das Schaffen der geeigneten Rahmenbedingungen in Lernsettings (siehe dazu auch: Maria Montessori zur „vorbereiteten Umgebung“), wie z.B. in den Curricula zu Social Entrepreneurship Education. Gute Berufs- und Bildungsentscheidungen jeder einzelnen Person dienen dem Wohl der ganzen Gesellschaft. Das bedeutet auch: Es muss nicht jeder studieren, aber es muss jeder und jede studieren können und dürfen.
Autorin: Gabriela Westebbe
Weiterführende Literatur und Links:
Bildung für nachhaltige Entwicklung: https://www.politischebildung.schule.bayern.de/bne/
Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln 2020
Aladin El-Maafalani – Interview auf YouTube: https://youtu.be/19vIlQkiotc
Claas Triebel: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?, Stuttgart, 2022
Maria Montessori: Zehn Grundsätze des Erziehens, Freiburg 2012